Liverollenspiel als Unterrichtsmethode
Potentiale und Risiken
EINLEITUNG
Rollenspiel ist seit Menschengedenken Teil des menschlichen Verhaltens. Die Möglichkeit eine andere Welt, anderer Perspektiven und Möglichkeiten zu testen und auf begrenzte Zeit anzuwenden hat einen Reiz, dem sich kein Kind je entziehen konnte.
Ausgehend von dieser Beobachtung soll im Zuge dieser Arbeit die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit sich Rollenspiel, und im speziellen Liverollenspiel, als Unterrichtsmethode und zur Wissensvermittlung eignet.
In diesem Sinne werden zuerst Begrifflichkeiten rund um das Thema Spiel, Rollenspiel und Liverollenspiel beleuchtet werden, um dann das Thema „Liverollenspiel als Unterrichtsmethode“ genauer betrachten zu können. Im Zuge dieser Abhandlung werden sowohl gesellschaftspolitische, als auch soziale, psychologische und pädagogische Potentiale und Herausforderungen im Zusammenhang mit dem genannten Thema behandelt.
2. LIVEROLLENSPIEL – Ein Definitionsversuch
Bevor der Begriff Liverollenspiel selbst definiert wird, folgt eine kurze Einführung in relevante Begriffe der Theorie hinter Spielen. Diese Definitionen sollen in weiterer Folge helfen, die Komplexität und die damit verbundenen Potentiale und Risiken von Liverollenspiel im Unterricht zu beleuchten.
2.1 Play und Game
Um der Definition des Begriffs und der Aktivität „Spiel“ gerecht zu werden, ist es notwendig, sich über deutschsprachige Begrifflichkeiten hinaus zu bewegen, da im deutschsprachigen Raum kein Unterschied gemacht wird zwischen dem Spiel als Aktivität – zu Englisch „play“ – und dem Spiel als Tätigkeit nach festgesetzten Regeln, in deren Rahmen ein Spiel im ersteren Sinne möglich ist – im Englischen als „game“ bezeichnet.
2.2 Play
In seinem berühmten Klassiker der Spielwissenschaft „Homo ludens“, beschreibt Johan Huizinga das Spiel (play) als eine Aktivität, die älter ist als die menschliche Kultur und begründet diese Annahme auf dem Spieltrieb von Tieren. In weiterer Folge beschreibt er das Spiel als einen formgebenden Faktor kultureller Entwicklungen und argumentiert, dass kulturelle Errungenschaften von Sprache, über Recht, Religion, Mythos, Krieg und Kunst allesamt ihren Ursprung im Spiel haben (vgl. en.wikipedia.org/homo_ludens).
Markus Montola vergleicht Huizingas Definition von Spiel mit dem Spiel, das ein Lenkrad oder die Kupplung eines Autos aufweisen. Innerhalb ihres ohnehin schon begrenzten Bewegungsrahmens können sie sich ein wenig bewegen, ohne dass dich die Räder des Fahrzeugs bewegen. Dieses Spiel ist nur durch das komplexe System Auto möglich, das Regeln aufstellt, innerhalb derer dieses bisschen Freiheit existiert (vgl. Montola 2012, 22). Gerät das Spiel an seine Grenzen, setzt sich das System (in Montolas Beispiel durch das Auto illustriert) in Bewegung. Eine Veränderung wird möglich, das System selbst bewegt sich. Huizinga beschreibt diesen Vorgang gesellschaftlicher Veränderung als Ritualisierung des Spiels. Wird das Ritual im Laufe der Zeit institutionalisiert, wird aus dem Spiel „Ernst“ und die Regeln, die das Spiel selbst nun im System etabliert hat sind nicht mehr leicht abänderbar, werden gar zu systemischen Zwängen (vgl. de.wikipedia.org/homo_ludens).
2.3 Game
Mit „game“ wird die Definition des Wortes Spiel aufgegriffen, die die sich auf den abgesteckten Rahmen bezieht, in dem gespielt werden kann. Neben diesem Spiel gehören Regeln, Herausforderungen und Interaktionen zu den Charakteristika, die zumeist ein Spiel als solches definieren (vgl. en.wikipedia.org/game). In der Abgrenzung von Spiel zu anderen geregelten Abläufen des menschlichen Lebens, wie zum Beispiel Arbeit und Kunst, entsteht ein Diskurs. So werden Spiele seit Jahrtausenden professionalisiert und Menschen widmen ihr ganzes Leben der bestmöglichen Bewältigung der Herausforderungen dieser Spiele – sie arbeiten hart und verdienen ihren Lebensunterhalt damit. Ist es dann noch ein Spiel, oder ist es bereits Arbeit?
Diesen Diskurs aufgreifend, teilt Roger Caillos Spiel (game) in zwei gegensätzliche Kategorien auf: Das freie Spiel „paidia“ und das strukturierte Spiel „ludus“. Paida ist das Spiel, das der Ablenkung, der Störung, der Improvisation und der unkontrollierten Fantasie folgt und Platz einräumt. Ludus hingegen ist dominiert durch Disziplin und Regulation, die den anarchischen und unkontrollierbaren Ansatz des Spiels umkehrt (Caillois 1958, 13). Professioneller Sport ist traditionell weit im Bereich des Ludus angesiedelt, während Rollenspiele sich in der Mitte des Spektrums bewegen. Im Heranwachsen des Menschen ist tendenziell eine Bewegung auf der Skala zu beobachten, die bei Paida startet und sich mehr (Spitzensport) oder weniger (Brettspiele) weit in den Bereich des Ludus hineinbewegt (Montola 2012, 26).
2.4 Regeln
Die meisten Definitionen von Spiel im Sinne des Begriffs „game“ sehen das Reglement als Basis-Charakteristikum des Spiels. In thematischer Annäherung an den Begriff Liverollenspiel ist eine Differenzierung des Begriffs Reglement sinnvoll. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass jedes Spiel Regeln haben muss, nach denen der/die SpielerInnen spielen sollten, ist noch nicht geklärt, wer die Regeln macht und wer die Einhaltung der Regeln und damit den korrekten Ablauf des Spiels kontrolliert.
Neil Dansey unterscheidet daher zwischen interner und externer Definition und interner und externer Bewertung (validation). Bestimmen andere SpielerInnen, Schiedsrichter, Publikum, etc. über die Regeln und deren korrekte Einhaltung, handelt es sich um externe Defintion und externe Bewertung. Spielt ein Kind mit sich alleine, stellt es die Regeln selbst auf und bewertet seine eigenen Aktionen hinsichtlich der Einhaltung dieser Regeln selbst – Es besteht eine interne Definition und Bewertung (vgl. Montola 2012, 33).
Auch wenn Rollenspiele immer auch extern definierten Regeln folgen, ist dem Rollenspiel die interne Bewertung quasi eingeschrieben. In der Darstellung einer Rolle zum Beispiel bestimmt jedeR TeilnehmerIn selbst ob er/sie korrekt handelt – es ist von aussen schlicht nicht beurteilbar, ob ein Handeln im Sinne der Rolle richtig oder falsch war. Sowohl die Definition der Regeln, nach denen die Rolle gespielt wird, als auch die Beurteilung der eigenen Handlung obliegt alleine dem/der SpielerIn.
2.5 Rollenspiel
Als Rollenspiel kann generell jedes Spie bezeichnet werden, bei dem die TeilnehmerInnen etwas oder jemanden anderen darstellen, als sich selbst. Das können reale Menschen, fiktive Figuren, Tiere oder Gegenstände sein. Generell kann zwischen freien Rollenspielen (Spiel wird spontan, mittels Fantasie und ohne Einschränkungen gestaltet) und reglementierten Rollenspielen (folgen Regeln die zuvor fest gelegt und von allen Teilnehmenden eingehalten werden sollten) unterschieden werden. (vgl. de.wikipedia.org/Rollenspiel_(Spiel))
Im Hinblick auf die weitere Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit Liverollenspiel, bietet sich folgende geschärfte Definition an, die den Grundbegriffe Immersion, Partizipation und Interaktion aufgreift, die für das Liverollenspiel von grundlegender Bedeutung sind: „(Rollenspiel) …ist ein Medium, das es einer Person ermöglicht, durch Immersion in eine Rolle und die Welt dieser Rolle zu schlüpfen und damit die Möglichkeit erhält an dieser Welt teilzuhaben undmit ihr, ihren Inhalten und ihren Akteuren zu interagieren.“ (Henriksen 2004, 108, übersetzt aus dem Englischen vom Autor)
2.6 Liverollenspiel
Laut dem Dogma 99 Manifesto von Elrik Fatland und Lars Wingârd ist Liverollenspiel „ein Treffen zwischen Leuten, die durch ihre Rollen einer fiktiven Welt zueinander in Beziehung stehen“ (Fatland & Wingârd 2003, 23, übersetzt aus dem Englischen vom Autor). Weiters definieren sie LARP (Live Action Roleplay) als Medium, das wie alle Medien seinen eigenen Gesetzen folgt. Das essenziellste dieser Gesetze lässt sich bereits aus der kurzen angeführten Definition ablesen: Liverollenspiel lebt von dem Zusammentreffen und der physischen Interaktion von Menschen, die eine Rolle verkörpern. Ohne diesen Kontakt kann Liverollenspiel nicht stattfinden. Weiters müssen alle Beteiligten wissentlich und willentlich an dem Spiel teilnehmen. Ist das nicht der Fall, handelt es sich nicht mehr um ein Liverollenspiel im klassischen Sinne. Ein Publikum, so interaktiv oder unauffällig es sich auch verhalten möge, ist kein Teil des eigentlichen Liverollenspiels – ist in den allermeisten Fällen sogar gänzlich unerwünscht. Das Resultat und der Gewinn von Liverollenspiel ist das Spielerlebnis jeder/s Einzelnen und nicht das Spiel an sich, das anders als im Theater und in der Performancekunst weder vorführbar, überschaubar, noch gänzlich sichtbar sein muss oder kann, da es sich zu einem großen Teil in den Köpfen der TeilnehmerInnen abspielt (vgl. Fatland & Wingârd 2003, 23). Während des Spiels gibt es keinen vorgegebenen Text. Die Handlung des Spiels wird durch das Umfeld, das aufgebaute Setting (auch Spiel-Universum genannt) und die Interaktion zwischen den Rollen der SpielerInnen generiert und ist dementsprechend nie wiederholbar.
3. EDUCATIONAL LARP
Das Educational Larp ist der Versuch, die Vermittlung von Unterrichts-Inhalten und Kompetenzen mittels Liverollenspiel zu bewerkstelligen. Das Medium Larp wird dabei im räumlichen Umfeld der Schule und in Zusammenarbeit mit oder gänzlich von den Lehrkräften, die generell für den Unterricht verantwortlich sind, eingesetzt.
Bereits in den 1970ern und 1980ern kam in Nordeuropa große Begeisterung für das Medium Rollenspiel als Unterrichtsmethode auf. Mit steigender Popularität stieg das Angebot an den Schulen drastisch, während wissenschaftliche Forschung hinsichtlich der Frage der nachhaltigen Wirksamkeit dieser Unterrichtstechnik weit hinterher hinkte. Die Begeisterung erfuhr einen großen Rückschlag, als die ersten Validitäts-Studien der allgemein bekannten mündlichen Propaganda der Unterrichtserfolge widersprachen. Nach und nach ebbte der exzessive Einsatz der Methode ab (vgl. Henriksen 2003, 111).
Nichtsdestotrotz finden Rollenspiele bis heute Eingang in den Unterricht und gelten als hilfreiche Abwechslung zu herkömmlichen Unterrichtsmethoden. Erst im letzten Jahrzehnt ist Liverollenspiel als besondere Form des Rollenspiels wieder in den Fokus der Wissensvermittlung gerückt. Die Osterskov Efterskole in Dänemark hat sich sogar gänzlich der Wissensvermittlung über Liverollenspiel verschrieben. Die Efterskole (übersetzt Nachschulen) sind eine weltweit einzigartige dänische Institution, die es 14–18jährigen erlaubt, 1–3 Jahre ihrer Schulausbildung mit einem speziellen Ausbildungsfokus auf zB eine Sportart, Musik, oder Tanz zu absolvieren (vgl. en.wikipedia.org/efterskole). An der Osterskov Efterskole, die wie alle Efterskoles die dänischen Standards hinsichtlich des Unterrichtsinhaltes und der Abschlussprüfungen zu erfüllen hat, ist dieser Schwerpunkt Rollenspiel. Anders als andere Schulen unterrichtet diese Schule allerdings nicht nach festgelegten Stundenplänen, sondern agiert immer projektbezogen und fächerübergreifend. Statt an Hausübungen arbeiten die SchülerInnen nach dem Unterricht an Portfolios, an Hand derer die Lehrkräfte kontrollieren, ob die gewünschten Inhalte vermittelt und korrekt verarbeitet wurden. Außerdem führen alle Schülerinnen einen individuellen Blog, der MitschülerInnen und Angehörigen Einblick in die Lernfortschritte und Erlebnisse bieten soll (vgl. osterskov.dk/om-os/osterskov-in-english/).
3.1 Politische und gesellschaftskritische Aspekte des Liverollenspiels
Trotz wachsenden Interesses ist Liverollenspiel auch nach 20 Jahren der Entwicklung und Auseinandersetzung noch immer ein blinder Fleck im akademischen Diskurs, was Söderberg auf die strikte Abgrenzung des Mediums von wirtschaftlicher Relevanz zurückführt. Als Subkultur, so Söderberg, ist europäisches Liverollenspiel zwar eingebettet in die hier vorherrschenden gesellschaftlichen Normen von Produktivität, Effizienz und passivem Konsum, leistet aber – ohne dabei einen politischen oder gar aktivistischen Ansatz zu haben – passiven Widerstand gegen diese Normen. Im Gegensatz zu aktiven Formen des Widerstandes gegen diese Normen nimmt Liverollenspiel keinen (oder selten) öffentlichen Raum wie Straßen oder Anschlagtafeln o.ä. ein, sondern lebt hauptsächlich von der Inbesitznahme von Zeit. Zeit die dem Rollenspiel gewidmet wird entzieht sich möglichst vollständig der konkreten Realität der TeilnehmerInnen und damit dem Einfluss jeglicher staatlicher und wirtschaftlicher Autorität. (vgl. Söderberg 2003, 101f).
Jeremy Rifkin bezeichnet erwachsenes Spiel als „das Antidot zur grenzenlosen Ausübung institutioneller Macht, sei sie politischer oder kommerzieller Natur“ (Rifkin 2000, 263, übersetzt aus dem Englischen vom Autor). Als partizipatorische, dialogische, kollektive und nicht kommerzielle Tätigkeit setzt sich Rollenspiel vom industrialisierten und institutionalisierten Spiel ab und unterliegt keiner institutionellen Kontrolle und keinem direkten politischen oder wirtschaftlichen Einfluss (vgl. Söderberg 2003, 102f).
Kreativität und Innovation gelten andererseits weithin als die wichtigsten Ressourcen vieler westlicher Industriestaaten, um den wachsenden finanziellen und wirtschaftlichen Anforderungen des globalisierten Marktes gerecht zu werden. Um diese Eigenschaften zu fördern und zu lehren, gilt es mehr denn je, Kompetenzen und interdisziplinäre inhaltsübergreifende Anwendungen für unser Wissen zu trainieren. Rollenspiel verlangt den TeilnehmerInnen ab, sich den Herausforderungen des Spiels anzupassen und Fähigkeiten sowie Wissen in verschiedenen Kontexten einzusetzen. Es ermöglicht und fördert ein Denken ausserhalb gesellschaftlich genormter Themenkomplexe und Zusammenhänge. Der kreative Selbstzweck von Rollenspiel macht es damit zu einem Medium, das wie jede Form der Kunst dazu geeignet ist, Systeme und Denkmuster spielerisch zu hinterfragen und neue Perspektiven zu eröffnen. In einem pädagogischen Kontext liegt eine der großen Herausforderungen des Rollenspiels darin dieses Potential zu nutzen (vgl. Henriksen 2006, 3). Ein großer Vorteil des Rollenspiels ist dabei, dass die Teilnehmenden gezwungen werden, sich im Spielen einer Rolle mit den Perspektiven des dahinter liegenden Charakters auseinanderzusetzen, was ein Potential für induktive Lernprozesse birgt (vgl Henriksen 2004, 115).
3.2 Psychologische Aspekte des Liverollenspiels
Aus psychologischer Sicht verändert Rollenspiel unsere Wahrnehmung, indem es den Deutungsrahmen der Interpretation unserer Erlebnisse verändert. Das Rollenspiel selbst wird dabei zu einem akzeptierten System, das gemäß eigener Gesetze persönliche Interpretationsrahmen und Erlebnisse zulässt, die unter normalen alltäglichen Umständen nicht möglich wären (vgl. Henriksen 2003, 112). Da Rollenspiel und im speziellen Liverollenspiel jedoch nicht von der realen Welt abgekoppelt funktioniert (wie es in den virtuellen Welten von Computerrollenspielen möglich ist) bewegen sich die Teilnehmenden immer in zwei parallelen Dimensionen oder Räumen. Andreasen unterscheidet in diesem Fall den realen physikalischen Raum, in dem das Spiel stattfindet – das Spielgebiet – und den „diegetischen Raum“, also den Raum, in dem das Spiel-Universum – das Setting – angesiedelt ist. Die TeilnehmerInnen eines Liverollenspiels bewegen sich als SpielerInnen im realen Raum und als Rollen im diegetischen Raum. Objekte und Personen können, müssen aber nicht Teil beider Räume sein. Innerhalb welchen Raumes eine Person oder ein Objekt wahrgenommen wird, bestimmen nicht allein die Organisatoren des Spiels, die beide Räume bestmöglich festlegen, sondern auch Medien- und Genre-Normen, nach denen die TeilnehmerInnen ihre Wahrnehmung und ihre Handlungen ausrichten (vgl. Andreasen 2003, 77).
Henriksen beschreibt das Spieluniversum als Endergebnis eine Rezentralisierungsprozesses (recentering) und unterscheidet dabei 4 Arten der Rezentralisierung:
Strukturelle Rezentralisierung
In diesem Schritt werden dezentrale Einflüsse und Akteure definiert. Dazu gehören zB soziologische, anthropologische und historische Perspektiven, sowie eventuell abgeänderte Formen von Zeit, Technologie und Naturgesetzen.
Kontextuelle Rezentralisierung
Sie beschreibt die Änderung der realen Kontexts (zB des Klassenraumes) zu dem spielerisch interessanten Kontext (zB ein Wirtschaftsunternehmen).
Individuelle Rezentralisierung
Die individuelle Rezentralisierung betrifft die individuelle psychologische Perspektive. Sie ermöglicht es den TeilnehmerInnen, Teil des Spiels zu sein und darin Erfahrungen zu machen.
Beziehungsrezentralisierung
Die Rezentralisierung der Beziehung zwischen Teilnehmerinnen und Kontext und Struktur ermöglicht es, Spannungen, Konflikte und Störungen und damit Aktion zu erzeugen.
(Henriksen 2004, 110f)
Um die TeilnehmerInnen des Spiels an diese Rezentralisierungen zu binden benötigt es wiederum drei miteinander verschränkte Vermittlerinnen: Aktualität, Attraktivität und Interaktivität.
Aktualität lässt die SpielerInnen das Spiel als unmittelbar, relevant und signifikant erleben. Attraktivität ist nötig, um das Spiel als interessant und erlebenswert zu präsentieren. Sie wird zum Beispiel durch eine attraktive Rolle innerhalb des fiktiven sozialen Systems erzeugt, die normalerweise nicht leicht eingenommen werden kann. Interaktivität ist die Möglichkeit der SpielerInnen, auf das Spiel und die Handlung Einfluss zu nehmen. Interpretative Freiräume innerhalb des Spieldesigns sind nötig, um diese Möglichkeit zu erzeugen (vgl. Henriksen 2004, 111).
3.3 Pädagogische Aspekte des Liverollenspiels
Im Bereich der Pädagogik möchte Liverollenspiel mittels eines fiktiven Diskurses die Erfahrung und Wahrnehmung eines/einer SpielerIn beeinflussen und im Endeffekt einen Lerneffekt im realen Leben verankern. Die Erfahrung des Diskurses findet für den/die SpielerIn aber innerhalb eines fiktiven Settings und als Rolle statt. Diese Schere zwischen Realität und Fiktion gilt als Problem, auf das viele Schwierigkeiten mit Rollenspiel als Unterrichtsmethode zurückzuführen sind (vgl. Henriksen 2003, 113). Eine Abgrenzung zwischen Fiktion und Realität wird nämlich bereits durch das Wesen des Rollenspiels erschwert. Zum einen gibt es die TeilnehmerInnen, also Personen, die an dem Rollenspiel teilnehmen. Sie bringen ihr eigenes Wissen, ihre Perspektiven und Erfahrungen mit. Dem Charakter, den sie darstellen sollen, sind wiederum eigene Perspektiven und Erfahrungen eingeschrieben, die für das Spiel relevant sind. Die Interpretation dieser Perspektiven und Erfahrungen sowie das Auffüllen aller Lücken, die durch die begrenzte Ausformulierbarkeit eines Charakters entstehen, werden von den TeilnehmerInnen vollzogen. Die Rolle ist also immer eine Interpretation des Charakters durch eineN TeilnehmerIn und beinhaltet beide Perspektiven und Erfahrungen gleichermaßen (vgl. Henriksen 2004, 112).
Begegnen wir dem Vorgang des Lehrens und Lernens aus einer konstruktivistischen Sicht, gibt es keinen objektiven Zugang zu unserer Realität – unsere Wahrnehmung und Interpretation der Welt ist rein subjektiv. Dementsprechend wäre unser Wissen eine individuelle Anhäufung von Handlungs- und Denkmustern, die sich in bestimmten (manchmal gehäuft vorkommenden) Situationen als zielführend und nützlich erwiesen haben. Unter diesen Gesichtspunkten wären Rollenspiele und Lernspiele generell vollkommen ungeeignet, um Wissen zu transportieren, da das erworbene Wissen an fiktive Inhalte gebunden wäre. Wenn Spiel also als Lehr- und Lernmethode eingesetzt wird, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Wissen kontextübergreifend einsetzbar ist. Die Überführung von einem (fiktiven) Kontext in den (realen) anderen passiert jedoch nicht automatisch, sondern ist ein geführter Prozess der De- und Rekontextualisierung von Erfahrungen (vgl. Henriksen 2006, 5).
Das gebündelte Wissen, das sich aus dem Vergleich der Perspektiven von TeilnehmerIn und Charakter sowie den Erlebnissen beider Parteien während eines Rollenspiels zusammensetzt, ist der Grundstein dafür, wie und was gelernt bzw übersehen wird. Dieses Resultat erklärt sich durch zwei Prozesse: Assimilation und Akkomodation (vgl. Henriksen 2006, 6).
Bei der Assimilation geht es um das Erfassen neuer Erkenntnisse innerhalb des eigenen Erfahrungshorizontes. Die einfachste aber auch unwirksamste Art, dies zu erreichen sind Spiele, die darauf abzielen vorgegebene Inhalte (zB historische Fakten) möglichst unterhaltsam entdeckbar zu machen. Ein zeitgemäßer Ansatz wäre kompetenzorientiert und konzentriert sich darauf, dass die TeilnehmerInnen des Spiels bestehendes Wissen rekonstruieren und anwenden lernen und damit neue kontextuelle Verbindungen aufbauen1. Gegen den Einsatz von Liverollenspiel als assimiliative Lernmethode spricht erstens, dass es bereits sehr viele gut funktionierende Methoden gibt, die nicht – oder in geringerem Ausmaß – von fiktiven Räumen Gebrauch machen, die die Übersetzung auf reale Situationen erschweren (wie zB Realbegegnungen, Planspiele, Schülerfirmen und Fallbeispiele). Zweitens generiert ein Liverollenspiel keine Umgebung, in der angenommen werden, kann, dass jedeR TeilnehmerIn die gleichen Erfahrungen macht. Damit herrschen nicht für alle die gleichen Bedingungen (vgl. Henriksen 2006, 7).
Die Akkomodation andererseits beschreibt den Prozess der Anpassung des eigenen Interpretationsrahmens nach der Konfrontation mit Wissen, das diesen Rahmen ungültig hinterlässt. Es handelt sich um einen unangenehmen und oft frustrierenden Prozess, dem oft bis zur letzten Konsequenz aus dem Weg gegangen wird. Teil eines Lernspiels zu sein ist noch kein akkomodativer Prozess, da wir über die Dauer des Spiels andere Gegebenheiten akzeptieren und danach wieder als irrelevant ablegen können. Um also einen Lerneffekt zu erzielen, muss die Wahrnehmung der TeilnehmerInnen angesprochen und ihre Anschauungen irritiert werden (vgl, Henriksen 2006, 7fff). Diese Irritation passiert meist erst in der vergleichenden Reflexion zwischen Erfahrungen und Perspektiven von TeilnehmerIn, Charakter und Rolle (vgl. Henriksen 2006, 10). Die Teilnahme an einem Rollenspiel alleine garantiert also keine Lerneffekte. Liverollenspiel eröffnet Möglichkeiten zur Selbsterfahrung, zu Reflexion und Kritik, ist für sich alleine gestellt aber noch nicht ausreichend, um nachhaltige Lerneffekte zu generieren (vgl. Henriksen 2003, 114). Oder anders gesagt: „larp doesn’t transform people – it opens for transformation.“ (Mochocki 2013, 101).
Eine vergleichende Reflexion der Ergebnisse bietet schließlich ein sehr offenes Lernangebot, das darauf basiert, dass es kein richtiges Ergebnis der Reflexion gibt und jedes individuelle Ergebnis valide ist. Laut Henriksen ist ein solches Ergebnis im Sinne eines Bildungsauftrages und unter der Annahme, dass eine bestimmte Ethik vermittelt werden soll, jedoch nicht sehr brauchbar (vgl. Henriksen 2006, 10). Und auch Schmit, Martins und Ferreira sehen eine Notwendigkeit darin, dem edukativen Liverollenspiel sehr explizite Grundsätze und Ziele zu Grunde zu legen, um eine zielführende und gewünschte Veränderung in der Wahrnehmung der Teilnehmenden erreichen zu können, besonders wenn es um soziale und persönliche Entwicklungen geht (vgl. Schmit, Martins und Ferreira 2009, 93f).
Dem gegenüber steht die Annahme von Bo Nurmi, der die Freiheit von Liverollenspiel als „Kunst des Mitwirkens“ (participatory art), als eine Chance zur Erneuerung von klassischen schulischen Strukturen sieht (vgl. Nurmi 2010, 278). Schule im herkömmlichen Sinne stellt für ihn ein passives und entmündigendes System dar, das den SchülerInnen im besten Fall die Wahl zwischen mehreren vorgegebenen Antwortmöglichkeiten gibt. Interaktion ist für ihn noch kein ausreichender Schritt, um den Unterricht die neuen Ansprüchen von Flexibilität, Kreativität und Innovation heran zu führen. Partizipation als Prozess des gleichberechtigten Kreierens und einen Fokus auf Aktion und tatsächliche freie Wahlmöglichkeiten sieht er als Schritte hin zu einem System, das diese Ansprüche erfüllen kann (vgl. Nurmi 2010, 280ff).
Liverollenspiel wird in diesem Zusammenhang zu einem befreienden Werkzeug, das es den TeilnehmerInnen ermöglicht, Aktionen zu setzen, die nicht bewertet werden und demnach weder richtig noch falsch sein können. Dieser kreative Spielraum erlaubt eine intrinsische Motivation zur Handlung, die nur durch die Interpretation des Charakters durch den/die TeilnehmendeN eingeschränkt ist. Um dem induktiven Ansatz des Lernens gerecht zu werden, sollte das Lernspiel nur ein Setting bieten, das es ermöglicht, Erfahrungen zu machen und Perspektiven einzunehmen, statt einer genauen Fragestellung oder einem festgelegten Ziel zu folgen. Nurmi vergleicht diesen Ansatz mit dem Unterschied, eine Landschaft frei entdecken zu können oder im Gegensatz dazu die Genauigkeit einer Karte zu testen (vgl. Nurmi 2010, 283ff).
Diesem freien und befreienden systemkritischen Ansatz steht in der Praxis jedoch das Verlangen gegenüber, die Wissensvermittlung einer Unterrichtsmethode – als die Liverollenspiel eingesetzt wird – überprüfen zu können. In diesem Zusammenhang ist Validität das schlagende Stichwort und gleichzeitig ein Wunder Punkt im Diskurs um Liverollenspiel im Unterricht.
3.4 Vor- und Nachbereitung
Da, wie schon angesprochen, durch die chaotische und schwer kontrollierbare Natur des Rollenspiels nicht garantiert werden kann, dass alle Teilnehmenden den gleichen Input erhalten geschweige denn zu ähnlichen Schlüssen kommen, scheint eine geleitete Vor- und Nachbereitung das einzige und geeignetste Mittel zu sein um eine Validität hinsichtlich zu vermittelnder Inhalte annähernd gewährleisten zu können.
Eine Reflexion der Inhalte, die in einem Rollenspiel vermittelt werden sollen, kann zu vielen Zeitpunkten stattfinden: Vor dem Spiel, nach dem Spiel, während dem Spiel und während einer Unterbrechung des Spiels. Eine Reflexion von Inhalten vor das Spiel zu stellen ist insofern nicht anzustreben, als dass dann der explorative und eigenverantwortliche Teil des Spiels und der Reflexion verloren geht. Eine Unterbrechung des Spiels zur Reflexion angesprochener Inhalte führt zu einem unterbrochenen Spielerlebnis, potentiellem Widerwillen gegenüber einer Hilfestellung oder Leitung, die zu diesem Zeitpunkt möglicherweise nicht erwünscht ist und sehr wahrscheinlich zu einem unbefriedigenden Ergebnis. Im besten Fall findet eine Reflexion bereits während des Spieles statt und bedarf keines weiteren Anstoßes, was aber kein Lernergebnis garantiert und auch nicht überprüft werden kann (vgl. Henriksen 2006, 12). Die sicherste und praktischste Methode einer zielgerichteten Reflexion von Inhalten findet dementsprechend nach dem Spiel statt.
Dieses sogenannte „Debriefing“ wird weithin sogar als der wichtigste Part des edukativen Rollenspiels gesehen. Es ermöglicht VeranstalterInnen, Lehrkräften und SchülerInnen einen Austausch und behandelt sowohl inhaltliche Auseinandersetzungen (die wiederum von entsprechenden Fachkräften angestoßen und vorangetrieben werden können) als auch emotionale Auseinandersetzungen. Denn Emotion ist ein essentieller Teil von Rollenspiel und kann als Teil des Lernprozesses angesehen werden (vgl Nickerson 2007, 3). Essentiell für ein funktionierendes Debriefing sind Regeln des konstruktiven und nicht wertenden Feedbacks, die Stephanie Nickerson folgendermaßen zusammenfasst: „Lassen wir die SpielerInnen statt die BeobachterInnen die ersten sein, die ihre eigenen Verhaltensweisen und Gefühle im Rollenspiel kritisieren und diskutieren. Das ermöglicht ihnen, sich gegen potentielle oder eingebildete Kritik zu wehren und ihr Ego zu schützen. Es ist außerdem hilfreich, vereinbarte und niedergeschriebene Grundregeln für Feedback an die SpielerInnen zu haben, wie etwa beschreiben statt bewerten, spezifisch statt generalisierend sein, für sich selbst und nicht für die Gruppe sprechen.“ (Nicherson 2007, 3, übersetzt aus dem Englischen vom Autor).
Michal Mochocki empfiehlt den Designern von Edukativen Rollenspielen, 50% der Energie auf des Spiel selbst und 50% auf Anwendungsdesign zu verteilen (vgl. Mochocki 2013, 109).
3.5 Conclusio
Unter Anbetracht der angeführten Potentiale und Risiken, die nur einen kleinen Teil der bisher zu diesem Thema veröffentlichten Positionen abdecken konnten, ist davon auszugehen, dass Liverollenspiel als Unterrichtsmethode geeignet ist, wenn gewisse Vorasussetzungen erfüllt werden. Die erste und vielleicht wichtigste dieser Voraussetzungen scheint eine intensive Auseinandersetzung der OrganisatorInnen mit den zu vermittelnden Zielen und Inhalten des Spiels/des Unterrichts zu sein. Einige Positionen lassen darauf schließen, dass die Vermittlung von Fakten nicht im Mittelpunkt einer solchen Unterrichtsmethode stehen können, was dem Konzept des kompetenzorientierten Lernens entgegenkommt. Eine intensive thematische und spielerische Vorbereitung, vor allem aber eine intensive und reflexive Nachbereitung sind also offensichtlich essentiell, wenn nicht ausschlaggebend, für den Lernerfolg der Teilnehmenden.
Das größte Potential des Liverollenspiels im Unterricht scheint im sozialen und sozialkritischen Bereich zu liegen. Die Einnahme einer Rolle und die damit verbundene Beschäftigung mit fremden Perspektiven bietet, so eine entsprechende Verbindung zur eigenen Realität dauerhaft aufgebaut werden kann, großes Potential im Hinblick auf die Entwicklung von Empathie und Reflexionsfähigkeit der Teilnehmenden. Um dieses Potential nutzbar zu machen, wird den betreuenden Lehrkräften jedoch viel Arbeitsaufwand abverlangt, was im Konflikt zu den ohnehin schon straffen zeitlichen und räumlichen Arbeitsbedingungen dieses Berufsfeldes steht.
4. QUELLENVERZEICHNIS
Literaturverzeichnis:
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Internetverzeichnis:
04.01.2015, de.wikipedia.org/Homo_ludens
04.01.2015, en.wikipedia.org/homo_ludens
04.01.2015, en.wikipedia.org/efterskole
04.01.2015, de.wikipedia.org/Rollenspiel_(Spiel)
04.01.2015, osterskov.dk/om-os/osterskov-in-english/
by Alexander Neubauer
28th of October 2015
Titelbild:
http://waldritter.org/
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